Neues Zinsregime und Rezessionsangst – Perspektiven für Anleger

An den Börsen macht sich seit Anfang 2022 ein entscheidender Regimewechsel bemerkbar. Der seit rund 40 Jahren bestehende Trend fallender Zinsen dürfte mit der durch viele Notenbanken weltweit eingeläuteten Zinswende sein Ende gefunden haben. Schon heute befindet sich die gesamte Zinskurve für Bundesanleihen im positiven Bereich. Die EZB dürfte im Laufe des zweiten Halbjahrs 2022 auch die noch negativen Einlagenzinsen für Banken über die Nulllinie heben und damit dem Verwahrentgelt auf Bankkonten die Grundlage entziehen.

Die Zinsbewegung hat aber auch die heftige Kurskorrektur der letzten Monate in nahezu allen Anlageklassen beeinflusst. Der Anstieg der Rendite einer zehnjährigen Bundesanleihe von -0,40 Prozent p.a. auf zwischenzeitlich 1,80 Prozent p.a. seit Mitte Dezember bedeutete für einen Anleger einen Kursverlust von weit über 10 Prozent. Da die Notierungen aller anderen Anlageklassen in den letzten Jahren angesichts verbreiteter Null- und Negativzinsen Bewertungsniveaus erreicht haben, die in einem normalen Zinsumfeld kaum denkbar wären, kam es auch bei Aktien zu einer Neubewertung mit der Folge deutlicher Kursverluste.

Es spricht jedoch einiges dafür, dass die größten Korrekturen vorerst hinter uns liegen. Zwar können sich Anleger über höhere Nominalzinsen freuen, wenn sie jedoch die zumeist explodierten Inflationsraten in Abzug bringen, ergeben sich historisch beispiellos negative Realzinsen. Wer also die Kaufkraft seines Kapitals erhalten möchte, kommt weiterhin nicht um reale Kapitalanlagen herum.

Zugegeben, auch für die Konjunktur haben sich die Aussichten vor allem aufgrund der Eskalation des Ukrainekonfliktes, wegen der wieder verschärften Lieferkettenprobleme sowie der ungewissen Corona-Situation in China und eben angesichts der Zinswende erheblich verändert. Allerdings ist ein Abgleiten der Weltwirtschaft in eine lange und tiefe Rezessions- oder gar Stagflationsphase nicht zu erwarten. Unternehmen und Staaten arbeiten schon jetzt erfolgreich daran, die Abhängigkeit von russischen fossilen Energieträgern zu verringern. Die Fed dürfte bei einer zu stark abkühlenden Wirtschaft die Zinsen wieder senken. Wenn sich dann noch in China eine wirtschaftliche Erholung abzeichnet, steht der Abarbeitung des sehr hohen Auftragsbestands in vielen Industrien nichts mehr im Wege. Steigende Aktienkurse im Laufe des zweiten Halbjahrs sind trotz kurzfristig bestehender Risiken somit nicht unwahrscheinlich.

Newsletter vom 06. Juli 2022

Carsten Mumm – Chefvolkswirt und
Leiter der Kapitalmarktanalyse
Privatbank Donner & Reuschel

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