Rezession in den USA – weitere Kursverluste unvermeidbar?

Viele Beobachter halten die bis dato zu beobachtenden Rückschläge an den internationalen Aktienmärkten für eine zu geringe Reaktion auf die aktuell extrem herausfordernde wirtschaftliche und politische Situation. Daher wird derzeit häufig vor einem weiteren Aktienmarkteinbruch gewarnt. Obwohl wir das selbstverständlich nicht ausschließen können, gibt es vor allem ein Argument gegen eine zu pessimistische Sichtweise: Krisenzeiten waren bisher immer auch Zeiten tiefgreifender Innovationen und anschließender Prosperität.

Zinskurveninversion und Rezession in den USA

Vor einem knappen halben Jahr haben wir auf die außergewöhnliche Situation einer sich invertierenden amerikanischen Zinsstrukturkurve aufmerksam gemacht. Inversion bedeutet hier, dass die Renditen kurzlaufender Anleihen diejenigen von Langläufern übersteigen. Mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit waren solche Zinskonstellationen – vor allem mit Blick auf die Renditen 2- und 10-jähriger US-Staatsanleihen – bis dato Vorboten wirtschaftlicher Rezessionen.

Worüber wir Anfang April nur spekulieren konnten, ist nun Realität geworden: Zum einen hat sich die Inversion der US-Zinskurve durch die jüngste Entscheidung der amerikanischen Zentralbank, den amerikanischen Leitzins („Fed-Funds-Rate“) um 75 Basispunkte anzuheben, verfestigt (siehe folgende Grafik 1) und zum anderen ist die US-Wirtschaft nun tatsächlich in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen geschrumpft.

Im ersten Quartal 2022 ging die durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) gemessene annualisierte US-Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt; BIP) um 1,60 % zurück und im zweiten um 0,90 % (siehe Grafik 2).

Angesichts der Rezessionsaussichten für die weltweit größte Volkwirtschaft sowie der auch ansonsten düsteren politischen und wirtschaftlichen Perspektiven (Krieg in der Ukraine, Inflation, Lieferkettenproblematik usw.) gehen viele Analysen davon aus, dass die bisherigen Abwärtsbewegungen an den internationalen Aktienmärkten die kritische Lage nicht ausreichend reflektieren (siehe Grafik 3).

Daher wird damit gerechnet, dass an den internationalen Aktienmärkten ein weiterer Einbruch im Grunde unvermeidlich ist.

Obwohl wir das selbstverständlich nicht ausschließen können, wird nach unserer Überzeugung dabei  zu wenig berücksichtigt, dass Krisenzeiten immer auch Zeiten großer Innovationssprünge und anschließender wirtschaftlicher Prosperität waren. Die Coronakrise liefert hierfür ein eindrucksvolles Beispiel: Obwohl die meisten Forscher zunächst davon ausgingen, dass sich die Entwicklung eines wirksamen Impfstoffes über mehrere Jahre, ja sogar ein Jahrzehnt hinziehen würde, ist es tatsächlich in weniger als zwei Jahren gelungen. Bezeichnenderweise vorrangig nicht durch staatliche Forschungsaktivitäten, sondern in der freien Wirtschaft. 

Ähnliches auch für die aktuelle Krise: Erstens wird auch sie überwunden werden und zweitens wird sie überraschende Innovationen befördern und entsprechende Wachstumskräfte freisetzen. In welchen Bereichen dies geschehen wird, darüber kann nur spekuliert werden. Ziemlich sicher sind wir aber, dass sich nicht die öffentliche Hand als Innovationstreiber erweisen wird, sondern privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen.

Langfristiges Wachstum als treibende Kraft eines Aktienmarktes

Und damit sind wir beim Thema Aktienmarkt angelangt. Bildlich gesprochen ist der Aktienmarkt ja nichts anderes als ein riesiger Mechanismus, der permanent sämtliche im Unternehmenssektor vorhandenen Chancen und Risiken gegeneinander abwägt und in Marktbewertungen, sprich Aktienkursbewegungen, übersetzt. Sowohl kapitalmarkttheoretische Überlegungen als auch empirische Untersuchungen weisen darauf hin, dass er dabei auch und vor allem die langfristig wirkenden zukünftigen Entwicklungen zu antizipieren versucht. Aktienmärkte reflektieren also nicht nur die aktuelle bzw. unmittelbar vor uns liegende Situation, sondern auch die fernere Zukunft. Dabei greifen sie zeitlich weit voraus.[1] So trägt beispielsweise nach unserem internen volkswirtschaftlichen Bewertungsmodell die Wirtschaftsleistung der nächsten fünf vor uns liegenden Jahre lediglich knapp 20 % zum fundamentalen Gesamtwert des Kapitalstocks einer Volkswirtschaft bei. Die restlichen 80 % dagegen hängen von der Wirtschaftsleistung der darauf folgenden Jahre ab[2].

Wie hoch diese Leistung aber sein wird, wird entscheidend davon bestimmt, wie stark die Wirtschaft zukünftig wächst. Viel mehr als durch einen krisenbedingten möglichen Rückgang des BIPs im nächsten Jahr wird die Aktienmarktentwicklung also davon bestimmt, wie sich durch die aktuellen Ereignisse die Zukunftsperspektiven verändern.

Innovationen heute stärken die Wachstumskräfte der Zukunft

Aufgrund des enormen Innovationsdrucks, der in der aktuellen Krise ja nicht nur auf den Unternehmen lastet, sondern auf der ganzen Gesellschaft, einschließlich sämtlicher staatlicher Institutionen, glauben wir, dass sich auch diese Krise, nachdem sie überwunden sein wird, positiv auf die Produktivität und Effizienz der Wirtschaft, aber auch des staatlichen Sektors auswirken wird. Die dadurch gestärkten Wachstumskräfte werden die Zukunftsperspektiven für die gesamte Gesellschaft letztlich verbessern – und nicht verschlechtern, wie viele Defätisten uns derzeit glauben machen wollen.


[1] Nur so lassen sich beispielsweise die in der Regel positiven Kursreaktionen der Aktienmärkte auf Investitionen in Forschung und Entwicklung erklären, die normalerweise ja sehr lange Vorlaufzeiten haben.

[2] Entsprechend diesem Modell ergibt sich der Wert aller Produktionsfaktoren einer Volkswirtschaft als (abdiskontierter) Barwert sämtlicher zukünftiger Bruttoinlandsprodukte. Dies macht es möglich, den prozentualen Anteil der unmittelbar vor uns liegenden fünf Bruttoinlandsprodukte am Gesamtwert zu ermitteln.

Newsletter vom 10. August 2022

Prof. Dr. Stefan May – Leiter Anlagemanagement
Quirin Privatbank AG

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